Alltagsgerechte Assistenzsysteme für die Pflege13 | 10 | 23

Assistenzsysteme, Pflege

TI, KI, elektronischer Heilberufeausweis (eHBA), elektronische Patientenakte (ePA) – diese Liste der digitalen Projekte im Gesundheitswesen lässt sich immer weiter fortsetzen. Regelmäßig werden auch die Segnungen gepriesen, die vernetzte Assistenzsysteme leisten sollen. Kontinuierlich informieren Fachzeitschriften über Neuigkeiten zur Digitalisierung in der Pflege. Häufig berichten jedoch die Anwendenden aus der Praxis, dass es nicht funktioniert.

Produkte ohne Praxis

Im Pflegebereich sind Software-Lösungen für die Dokumentation weit verbreitet. Mittlerweile hat jede Pflegestation ihren Mobilen Dokumentationsassistenten (MDA) zur mobilen Datenerfassung. Wobei dabei häufig nur der umständliche analoge Papierprozess in eine ebenso praxisferne digitale Lösung überführt wird. Als marktreifes Produkt mit Wertschöpfungspotenzial funktioniert im Assistenzbereich eigentlich nur der digitale Hilferuf, und zwar vor allem in der klassischen Form als Haus-Notruf.

Bei der nicht ortsfesten Variante, dem Mobilnotruf, steht der Gesetzgeber im Weg. Als Folge der Regelungen im SGB XI wurde nämlich für die entsprechende Produktgruppe für Mobilität des Pflegehilfsmittelkatalogs festgeschrieben, dass die Notrufsysteme auf den häuslichen Bereich beschränkt sein sollen. Dies widerspricht jedoch dem Gedanken, Menschen im Alter zu aktivieren und ihre Mobilität zu fördern. Dafür müssten sie das Haus verlassen können, ohne auf den Notruf zu verzichten.

Wirkungslose Budgetierung

Die Finanzierung ist unzureichend. Die Liste der vernetzten Assistenzsysteme, die für die Pflege bereitstehen und aus der Pflegeversicherung vergütet werden, ist kurz. Und zusätzlich gelten Einschränkungen, wie im Falle des Hausnotrufs, der eigentlich nur bewilligt wird, wenn keine weitere Person im Haushalt lebt.

Bisher gibt es auch keine Garantie, dass die durch digitale Assistenzsysteme eingesparten Ressourcen tatsächlich der viel beschworenen Zeit an der Klient:in zu Gute kommen. Solange Pflege-Personal nur als Kostenfaktor gesehen wird, ändert sich daran nichts.

Ressourcen für den Rotstift?

Damit steigt nicht gerade die Akzeptanz für den Einsatz digitaler Assistenzsysteme. Denn die Befürchtung ist, dass mehr Technik die zu knappe Personalressource manifestiert. Diese Angst ist nicht ganz unbegründet, weil in Vergütungsverhandlungen von Kostenträgern regelmäßig das Wirtschaftlichkeitsgebot aus §4 Absatz drei des SGBXI als Kostendämpfungsargument genutzt wird, um Budgets zu deckeln. Die Vermutung liegt nahe, dass durch Assistenzsysteme gewonnene Ressourcen dann nicht in den Pflegeprozess fließen, sondern schlicht dem Rotstift zum Opfer fallen.

Eine Akademisierung trägt signifikant zum digitalen Know-how und der Akzeptanz entsprechender Technologien bei. Gerade die Pflege ist hierzulande aber in dieser Hinsicht schlecht aufgestellt. Die Akademisierung bewegt sich im internationalen Vergleich auf sehr niedrigem Level. Und schließlich sind Produktentwicklungsprozesse häufig entkoppelt von der Pflegepraxis. Aber wenn Pflegekräfte nicht von Beginn an eingebunden werden, sind Widerstände vorprogrammiert.

Vorteile häufig falsch eingeschätzt

Die digitale Infrastruktur ist selbst ein Pflegefall. Viele Langzeitpflegeeinrichtungen verfügen nur eingeschränkt oder gar nicht über WLAN. Soft- und Hardware-Ausstattung sind häufig nur begrenzt für das Personal verfügbar. Von der Klinik über die stationäre Pflege hin zur ambulanten Pflege nimmt der Digitalisierungsgrad ab. Er ist also dort am geringsten, wo die meisten Menschen pflegerisch versorgt werden.

Organisationen und ihre Strukturen sind ein großes Hindernis bei der Einführung digitaler Systeme und von Assistenz-Technologien. Dort werden die Vorteile und Chancen des Einsatzes von Assistenzsystemen vielfach nicht gesehen oder sogar falsch eingeschätzt. Dann steht beim nächsten Software-Update der Pflegeroboter im Keller, weil niemand in der Einrichtung sich mit der Installation auskennt. Umgekehrt gibt es Sensor-Systeme, die viele zeitaufwändige Wege überflüssig machen würden. Für die Freisetzung der damit verbundenen Ressourcen braucht man keinen Gesetzgeber. Wenn aber niemand in der Einrichtung die Vorteile in Euro umrechnet, bleiben sie auf der Strecke.

Die Liste der Projekte zur Nutzung assistiver Technologien in der Pflege ist über die Jahre so lang geworden wie die ihrer Hürden.

Folgende Maßnahmen wären in diesem Zusammenhang sinnvoll:

  • Ausreichend alltagsgerechte, valide den Pflegeprozess unterstützende Technologien
  • Flächendeckende Förderung effizienter und pflegerisch effektiver Assistenzsysteme, dauerhaft seitens der Kostenträger, von Kommunen oder Betreibern
  • Stärkung des Bildungsniveaus, Empowerment der Profession
  • Schaffung der physischen Infrastruktur vor Ort gepaart mit Know-how-Aufbau
  • Öffnung der Strukturen für die nachhaltige Nutzung unterstützender Technologien.

Orchestrierung der Maßnahmen erforderlich

Es kommt bei der schleppenden Nutzung vernetzter Assistenzsysteme vieles zusammen. Die latente Abneigung der Pflege gegen digitale Tools, das unzureichende Pflege-Verständnis von Herstellern und die mangelnde Bereitschaft, Pflegende in die Entwicklung von Produkten einzubeziehen, die fehlende Finanzierung vernetzter Pflegehilfsmittel und so weiter.

Um Digitalisierung und vernetzte Hilfsmittel in der Breite einzuführen, müssen Potentiale transparent gemacht, Ängste abgebaut und Hürden beseitigt werden. Wichtig ist die Abstimmung von Maßnahmen seitens der Einrichtungen selbst, aber auch im Zusammenspiel mit Gesetzgeber und Kommunen. Das Ziel muss sein, alltagsgerechte Assistenzsysteme flächendeckend und nachhaltig für den Pflegeprozess nutzbar zu machen. Wie bei der Einführung des Strukturmodells zur Entbürokratisierung (EinStep) bedarf es dafür einer Orchestrierung von Maßnahmen an zentraler Stelle.

 

DGQ-Pflege-Forum: Mensch im Fokus –
Assistenzsysteme und Entlastung für mehr Qualität in der Pflege

DGQ-Pflege-Forum

Wie können digitale Assistenzsysteme den Pflegeprozess unterstützen? Im Rahmen des DGQ Pflege-Forums „Mensch im Fokus“ laden die Deutsche Gesellschaft für Qualität (DGQ) und die Deutsche Kommission Elektrotechnik (DKE) Sie herzlich ein, die Theorie-Praxis-Lücke zwischen den Möglichkeiten des Einsatzes intelligenter Technik und den Zwängen des Alltagsgeschäfts in der Pflege zu erörtern. Das Pflege-Forum thematisiert dabei auch Lösungsansätze zur Entlastung der Pflegenden und der Aktivierung ihrer Ressourcen.

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Seien Sie dabei: 30. November 2023 l 10:30 bis 17:00 Uhr l Berlin oder Online

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Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.