Habemus progressum?18 | 01 | 22

Mit dem Jahresbeginn setzen wir nunmehr die Analyse des Regierungsprogramms fort, abermals mit dem Fokus auf die Pflege.

Knapp zwei Monate nach der Bundestagswahl stand am 24. November 2021 der Koalitionsvertrag einer Regierung, die sich dem Fortschritt (lat. progressus) verschrieben hat. Mit Beiträgen, Umfragen und Veranstaltungen hatten wir das Wahlgeschehen bis dahin aus der Perspektive des DGQ-Fokusthemas Pflege begleitet und im Dezember bereits eine erste knappe Bestandsaufnahme veröffentlicht.

Dabei leitet uns die Frage, wie viel progressive Veränderung sich die Ampelkoalition in der Pflege zutraut?

Wagnis ist Risiko

„Mehr Fortschritt wagen“, so lautet das Motto des Koalitionsvertrages der drei Regierungsparteien. Und „wer wagt, gewinnt“ heißt es im Volksmund. Tatsächlich bergen Wagnisse auch Risiken. Das hat die Vorgängerregierung erfahren müssen, als sie mit Elan die konzertierte Aktion Pflege (KAP) im Verbund dreier Ministerien startete. Das Echo zu den Ergebnissen aus der Fachwelt war am Ende jedoch recht verhalten.

Was haben die Neuen gelernt? In dem Vergleich der Koalitionsverträge von heute (Ampel) und damals (GroKo) fällt schon einmal ein quantitativer Unterschied auf. Die Koalitionspartner geben sich zurückhaltender und nutzen den Begriff „Pflege“ dieses Mal ein Drittel seltener als damals. Gemessen werden soll der KV aber vor allem an Inhaltlichem. In Bezug auf die Pflege gibt es dazu auf Seite 66 des Koalitionsvertrags den ersten Hinweis: Da geht es um mehr Menschlichkeit, mehr Qualität und eine bedarfsgerechtere Versorgung – das Ganze auch noch sektorenübergreifend. Das Risiko einer Konkretisierung wie sie diese Ziele erreichen wollen, sind die Koalitionärinnen und Koalitionäre jedoch nicht eingegangen. Entsprechend haben die Regierungsparteien bei diesem Thema nur einen überschaubaren Fortschrittsansatz gewagt.

Ampel in die richtige Richtung?

Das nächste Signal im Koalitionsvertrag zur Pflege geht an die Familien in der häuslichen Versorgung. Zahlenmäßig werden in dem Sektor laut Statistischem Bundesamt über die Hälfte der insgesamt gut vier Millionen nach dem Gesetz pflegebedürftigen Menschen versorgt (Destatis, 2019), mehr als zwei Millionen Menschen sogar ausschließlich durch Angehörige. Das waren 51,3 Prozent aller Pflegebedürftigen in 2019 und die Tendenz ist steigend.

Der Grund für das zunehmende Engagement von Angehörigen und Laien in der Pflege daheim ist die Verteuerung der professionellen Pflege in Deutschland, die voll zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen geht. Der Anstieg der Eigenbeteiligung in Heimen und schrumpfende Leistungskataloge in der ambulanten Pflege werden jeweils durch die zwar begrüßenswerte Anhebung der Löhne verursacht. Die Kostensteigerungen werden jedoch voll an die Pflegeversicherten weitergegeben. Dadurch steigt sukzessive die Bedeutung der Laienpflege und die Versorgung durch familiäre Angehörige, weil sie für die Versicherten günstiger ist.

Ohne diese Laienpflege würde die Hauptsäule der Langzeitversorgung allerdings zusammenbrechen. Die Koalition hat sich nun die Stärkung der haushaltsnahen Dienstleistungen vorgenommen, um pflegende Angehörige mehr zu entlasten. Dieses Vorgehen ist einer Einsicht geschuldet: Die professionelle Pflege, die sich seit Jahren in einem Personalnotstand befindet, wird den erwarteten Zuwachs an Pflegebedürftigen um weitere zwei Millionen Menschen innerhalb der nächsten zehn Jahre unter den jetzigen Voraussetzungen nicht stemmen. Um andererseits der Gefahr zu begegnen, dass noch mehr Angehörige und Familienmitglieder im Spagat zwischen Beruf und Familie körperlich-seelisch ausbrennen, ist das Vorhaben der Koalition nachvollziehbar, dort unterstützend einzugreifen.

Allerdings birgt dieses Vorgehen die Gefahr, dass professionelle Pflege vermeintlich überflüssig ist und die Versorgungsqualität weiter leidet. Es wird darauf zu achten sein, in wie weit die aus dieser Vorlage entstehenden Gesetzesvorhaben wirklich den eingangs zitierten Qualitätsanspruch beinhalten. Außerdem ist hier eine systematische Frage zu stellen, ob Deutschland nämlich weiterhin eher auf die Familie als wichtigstem Standbein für die Versorgung besonders von Langzeitpflegebedürftigen setzt, oder ob im Sinne des Fortschritts die professionelle Dienstleistung ein Stück nach vorne rückt.

Denn mit Blick auf die Entwicklung der Pflege zur modernen Dienstleistung hat Deutschland im europäischen Vergleich eigentlich großen Aufholbedarf (Heinze, 2015). Der Versuch, die Familie zu stärken, ist angesichts der dramatischen demographischen Entwicklung nachvollziehbar, führt aber langfristig in eine pflegefachliche und pflegepolitische Sackgasse. Es muss daher beobachtet werden, ob es sich tatsächlich nur um die angekündigte Entlastung der pflegenden Angehörigen handelt, oder ob es sich um einen hilflosen politischen Reflex handelt, der schließlich keine Probleme löst. Die Stärkung der ambulanten Versorgung durch gleichwertige Vergütung bei gleichzeitigem Professionalisierungsschub wäre hingegen zu begrüßen.

Bauvorhaben an der Schnittstelle zwischen Pflege und Teilhabeleistungen

Nachzuholen gibt es auch etwas in Bezug auf die Abgrenzung der Pflege zu Leistungen der Inklusion. Der Gesetzgeber hatte bereits 2016 einen weiten Satz in die Zukunft gemacht, indem rechtlich mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) eine Angleichung an die UN-Behindertenkonvention geschaffen wurde. Allerdings gibt es seither einen latenten Regelungsbedarf zwischen Pflege und Eingliederungshilfe und es kommt an der Schnittstelle zu Einbußen der Versorgungsqualität. Gerade dort zeigt sich in der Praxis deutlich, wie groß die Lücke zwischen Fachlichkeit und Rechtsnormen ist. Während die jeweiligen Disziplinen in anderen Ländern selbstbewusst ihre Claims abstecken, ist es hierzulande der Gesetzgeber, der sich in die Leistungsbeschreibung einmischt, ohne fachliche Aspekte ausreichend zu würdigen. Jetzt leiden vor allem behinderte Menschen unter dem Strukturdefizit, weil Zuständigkeiten und Leistungsberechtigungen zwischen Pflege und Teilhabeleistungen nicht immer klar geregelt sind. Eigentlich schreit das nach einer grundsätzlichen Strukturreform. Aber die wird auch mit der neuen Regierung nicht kommen, wie wir später sehen werden.

Zugegeben, die fachliche Pflege befindet sich tatsächlich an einem Versorgungsknotenpunkt und verbindet gesundheitliche und soziale Themen in einer Profession mit Aspekten der Pädagogik und der Psychologie. Die Politik tut sich schwer damit und bereits in den Wahlprogrammen war nicht immer klar, ob mit dem Begriff Pflege ausschließlich das Langzeitsegment oder eher die Krankenversorgung gemeint ist. Der Koalitionsvertrag setzt diese Unsicherheit fort, indem die Pflege im Schulterschluss mit „Gesundheit“ adressiert wird, die Überschrift zum Themenbereich lautet „Pflege und Gesundheit“.

Der große Schritt bleibt aus

Immerhin folgen auf den Seiten 80 bis 82 des Vertrages einige Absätze unter der Überschrift „Pflege“. Dieser Passus stellt sozusagen den Katalog der „Pflegenotstands-Symptomatik“ dar, den die Ampelkoalition als dringend zu lösende Fragestellungen im Themenbereich definiert. In der Tat werden dort viele der großen Herausforderungen aufgelistet und Klärungswille signalisiert. Das reicht von einer Gratifikation für die besondere Leistung von Pflegekräften während der Pandemie über die Förderung zeitgemäßer Versorgungsformen bis hin zur Stärkung der Pflege in der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens.

Die Formulierungen sind jedoch weitgehend allgemein gehalten und bergen auch möglichen Zündstoff. Denn bei der Beschränkung von Lohnsteigerungen und Prämien auf Pflegekräfte werden bereits die Stimmen laut, die eine drohende Ungleichbehandlung der verschiedenen Sektoren und der anderen an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen beklagen. Außerdem ist weiterhin unklar, wie die neue Regierung mit den oben erwähnten steigenden Eigenbeteiligungen und dem Schrumpfen der Leistungsumfänge umgehen will.

Insgesamt entsteht ein eher widersprüchlicher Eindruck bei den Vorhaben der neuen Regierung in Bezug auf die Pflege. Denn zum einen wird die derzeitige Situation als hoch brisant eingeschätzt, Zitat, S. 81: „Der Dramatik der Situation in der Pflege begegnen wir …“. Die angekündigten Maßnahmen behandeln aber Symptome und sind im Großen und Ganzen nichts Neues – wie zum Beispiel die seit langem geplanten Personalbemessungsinstrumente, die jedoch schlicht am Mangel an Personal scheitern werden. Eine Ausnahme bildet ansatzweise lediglich das Thema Digitalisierung.

Dennoch spricht die Vorsitzende des deutschen Pflegerats von einem Meilenstein in der Pflegepolitik, relativiert die Aussage aber auch gleich. Sie postuliert, dass den vielversprechenden Worten nun Taten folgen müssten. Viele hatten sich vom Koalitionsvertrag auch mehr erhofft, nämlich eine echte Strukturreform, einen Bürokratieabbau und schlicht mehr Zeit für die Pflege. Eine grundsätzliche Reform müsste nicht allein die Neuaufstellung der Finanzierung umfassen, sondern einmal folgende Grundfragestellungen angehen:

  • Warum ist das Fachgebiet Pflege im und durch das Sozialrecht in zwei Segmente geteilt?
  • Warum gilt für die Pflegeausbildung eine Ausnahme vom Berufsbildungsgesetz, die die Durchlässigkeit und Karrierechancen für Auszubildende behindert und letztlich die Emanzipation der Pflege als eigenständige Profession erschwert?
  • Wie lauten die Antworten auf den zunehmenden Spalt zwischen der Individualisierung in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft und einem tradierten und von der Kernfamilie geprägten Verständnis der Versorgung und der Pflege?
  • Welche Konzeptionen gibt es, um mit der Umkehr der Bevölkerungspyramide und Anstieg von Multimorbidität und Demenz nicht alsbald in einen demographischen Abgrund zu blicken und vor einer Versorgungskatastrophe zu stehen?
  • Wie sieht die Gesamtkonzeption für den Einsatz intelligenter Technik in der Pflege aus?
  • Was wird getan, damit Pflege nicht mehr nur darauf ausgerichtet ist, Defizite auszugleichen und medizinische Assistenz zu leisten, sondern Kompetenzen zu fördern und Menschen für ihre Gesundheit zu aktivieren?

Wenige Antworten, viele Fragen

Wir haben zu den wenigsten der gestellten Fragen in dem Koalitionsvertrag Ansätze eindeutiger Antworten gefunden. Eigentlich irritiert es sogar, wie gering der Mut zu sein scheint, die seit langem in der Fachwelt und spätestens seit der Corona-Pandemie auch in der breiten Öffentlichkeit diskutierten massiven Herausforderungen konkret anzugehen.

In weiteren Beiträgen wollen wir uns nun damit auseinandersetzen, wie fortschrittlich der Koalitionsvertrag in Bezug auf die von der DGQ für die Pflege aufgestellten Schwerpunktthemen ist.


Quellen:

Heintze, C. (2015) Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem. Ein Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland, Friedrich Ebert Stiftung, 2. Auflage

Vogler, Ch. Für die Profession Pflege ist der Koalitionsvertrag ein Meilenstein.

Pflegebedürftige nach Versorgungsart, Geschlecht und Pflegegrade 2019, Statistisches Bundesamt

SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP (2021) MEHR FORTSCHRITT WAGEN. BÜNDNIS FÜR FREIHEIT, GERECHTIGKEIT UND NACHHALTIGKEIT. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP. Koalitionsvertrag der 20. Legislaturperiode vom 24. November 2021, Berlin.

Über den Autor: Holger Dudel

Holger Dudel ist Fachreferent Pflege der DGQ. Er ist gelernter Krankenpfleger und studierter Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler. Er hat zuvor Leitungsfunktionen bei privaten, kommunalen und freigemeinnützigen Trägern der Langzeitpflege auf Bundesebene innegehabt. Qualität im Sozialwesen bedeutet für ihn, dass neben objektiver Evidenz auch das „Subjektive“, Haltung und Beziehung ihren Platz haben.

Ein Kommentar bei “Habemus progressum?”

  1. 6721f22bcc39240586945bd604e00c17 Stephan Laube sagt:

    Lieber Herr Dudel,
    ich gratuliere zu ihrem toll geschriebenen Artikel. Ich würde mich anschließen und dazu bemerken wollen, dass es neben der irritierenden Geringfügigkeit, in welcher das Thema im KV auftaucht, auch im Erleben der Bürger so fortgeführt wird, dass auf politischer Ebene kaum etwas zu diesem Thema bekannt gemacht wird. man erfährt gefühlt kaum etwas zur politischen Arbeit in diesem Themenfeld. Dies kann auch „gewichtend“ wirken, sodass der Eindruck entsteht, „wenn man nicht viel dazu hört, dann kann es ja nicht so wichtig sein…“

    Schöne Grüße und bis bald,

    Stephan Laube

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