Menü

Von der Qualitätspolitik zur Qualitätsstrategie

Immer wieder sprechen mich Qualitätsmanager auf das Thema Qualitätsstrategie an, laden mich ein, darüber zu diskutieren oder gemeinsam daran zu arbeiten.

Das ist für die DGQ ein neues Phänomen, für das ich eineinhalb Erklärungen habe. Die maßgebliche Erklärung ist: Es gibt heute einen Bedarf für eine Qualitätsstrategie, den es so in den letzten beiden Jahrzehnten nicht gab. Viele Unternehmen geben sich gerade grundlegend neue Strategien. Change und Transformation prägen diese Strategien. Das stellt auch das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung vor ganz neuartige strategische Herausforderungen. Sie unterliegen einerseits ganz neuen Anforderungen und können andererseits viele neue Möglichkeiten nutzen.

Eine zusätzliche halbe Erklärung ist: Die DGQ hat sich in den letzten beiden Jahren als Ansprechpartner für strategische Fragen positioniert: mit ihren Impulsen zum neuen QM in der Welt 4.0, mit ihren Analysen der Phänomene und Dynamiken der Transformation sowie ihrem Blick auf Trends und Perspektiven eines agilen QM und einer Qualitätssicherung 4.0.

Natürlich waren die Qualitätsabteilungen in den letzten Jahren nicht unstrategisch. Aber Strategiearbeit hat hier meistens bedeutet, aus aktuellen strategischen und operativen Unternehmenszielen eigene Qualitätsziele abzuleiten. Zudem galt es, die Qualitätspolitik zu formulieren oder zu aktualisieren. Das Konstrukt der Qualitätspolitik basiert auf einer zwar nicht falschen aber problematischen Übersetzung dieses Schlüsselbegriffs von ISO 9001. Quality Policy mit Qualitätspolitik zu übersetzen, hat auf die falsche Fährte geführt. Policy kann durchaus mit Politik (englisch politics) übersetzt werden, aber auch mit Richtlinie und Strategie. Und darum muss es letztlich gehen. Allzu oft besteht die Qualitätspolitik heute aus einer im Grunde nutzlosen einseitigen Erklärung zu Kundenorientierung und der Bedeutung der Qualität.

Die heutigen Anforderungen an eine Qualitätsstrategie gehen viel weiter. Sie muss eigene Antworten auf die neuen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft finden. Diese Herausforderungen zu verstehen und benennen zu können, ist der Schlüssel für gute Strategiearbeit im Qualitätsbereich. Die pragmatischen und lösungsorientierten Qualitätsmanager überspringen diesen Schritt leider oft. Da mag es helfen, das die DGQ gravierende grundsätzliche Herausforderungen unserer Zeit der digitalen Transformation und sogar Disruption benannt hat (s. Tabelle).

Auf jeden Fall lohnt es sich, in eine handwerklich und inhaltlich gute Q-Strategiearbeit zu investieren. Es geht um nicht weniger als die Wirksamkeit und die unternehmensinterne Anerkennung des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung unter sich erheblich ändernden Rahmenbedingungen.

Phänomen Ausprägung Herausforderung
Innovation und Disruption lösen unüberschaubare Dynamiken aus. Vielzahl, Tiefe und Verbreitungsgeschwindigkeit von Innovation und Disruptionen stellen Unternehmen schnell und immer wieder vor neue Herausforderungen. Die Innovation, das Bessere, ist die Schwester der Qualität, des Guten. Wir stehen unter hohem Innovationsdruck und dem Risiko von Disruptionen Wie können wir selbst innovativer sein und die Disruptionen der anderen überleben?
Das Internet ist ein neuer sozialer Handlungsraum. Mit dem Internet ist nicht einfach ein technisches Netz entstanden. Die Menschen haben sich eine neue Welt geschaffen, in der ganz neuartige Interaktionen und Geschäftsmodelle möglich sind. Aus der Perspektive der Menschen früherer Zeitalter ist dies eine geradezu magische Welt, in der die Naturgesetze und alte Gewissheiten nicht mehr gelten. Wie nutzen wir die Möglichkeiten dieses neuen Handlungsraums? Welche neuartigen Qualitätsanforderungen stellt die neue Welt?
Die Bedeutung des Menschen steigt trotz oder sogar wegen gleichzeitiger Verdrängung durch Nutzung der Technik. Der Mensch erhält Unterstützung durch Technik (z. B. Augmented Reality) ist aber auch hochgradig überfordert und hat Angst, von der Technik verdrängt zu werden. Die einen treiben Innovation und Veränderung mit Lust voran, andere erhöhen den Widerstand dagegen. Der Anteil von Zeitarbeit und (schein)selbstständiger Arbeit steigt anteilig. Es entsteht eine Zweiklassengesellschaft von Erwerbstätigen. Wie gestalten wir die Organisation so, dass ihre Menschen Qualität erzeugen wollen, kön-nen und dürfen?
Die Automatisierung schreitet voran und umfasst jetzt alle Tätigkeitsbereiche. Über Jahrzehnte haben wir vornehmlich das Handling, die Bearbeitung und den Transport von Gütern automatisiert. Inzwischen hat auch die Dienstleistung einen hohen Automatisierungsgrad und die Automatisierung stößt in immer mehr Tätigkeiten vor, darunter auch planerische und kreative Tätigkeiten. Wie nutzen wir die Möglichkeiten der Automatisierung in der Qualitätssicherung?
Qualität braucht Stabilität – die Welt 4.0 ist geprägt durch die Aufrechterhaltung der Veränderung. Die klassischen Qualitätsmanagementansätze sind in und für Zeiten stabiler Prozessorganisationen entstanden. In der Welt häufigerer, tiefgehenderer und schneller um sich greifender Veränderung gilt es, die Balance zwischen notwendiger Stabilität und notwendiger Veränderung neu zu finden. Wie finden wir die richtige Balance zwischen notwendiger Veränderung und notwendiger Stabilität?
Das hohe Maß an Veränderung hat einen Schub von Agilisierung ausgelöst. Agilisierung ist eine (von mehreren?) plausible Antwort auf die Veränderungs- und Innovationsdynamiken. Agilität hat es immer gegeben, wir sind aber jetzt noch besser darin geworden, weil wir es müssen. Das QM weiß meistens noch nicht, mit dieser Dynamik umzugehen. Wie machen wir das QM selbst agil und wie kann das QM das agile Unternehmen gestalten helfen?
Wir kennen etablierte Produktentstehungsprozesse für Slowware, erfinden jetzt neue für Quickware. Nahezu alle Produkte sind heute eine Mischung aus Hardware, Dienstleistung und Software. Einige (Slowware) werden langsam ausentwickelt dem Kunden fertig übergeben, andere (Quickware) werden in Hochgeschwindigkeit entwickelt, dem Kunden unfertig übergeben und im Betrieb verbessert (Update/Upgrade/Patch) Mit welchen Methoden können wir die Qualität von Quickware sichern?
Alles ist mit allem vernetzt. Noch nie waren Unternehmen, Menschen und Maschinen in so großen Netzwerken so komfortabel miteinander verbunden. Qualität entstand immer schon aus der Vernetzung. Nun aber sind die Netzwerke viel dynamischer geworden. Das Unternehmen und die klassische Zulieferkette sind nicht mehr die einzig praktikable Möglichkeit, Arbeitsteilung zu organisieren. Wie können wir in wabernden Netzen Qualitätsfähigkeit herstellen? Wie kann ich Möglichkeiten der Vernetzung nutzen?
Alles ist transparent – dennoch grassiert die Täuschung. Alles ist recherchierbar, Produkte, Hersteller, Kunden etc. herrscht große Transparenz. Uns stehen Unmengen an Daten zur Verfügung. Dennoch erkennen wir oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Jeder macht sich seine eigene Wahrheit. Fakten werden zu Meinungen deklariert, Meinungen zu Fakten erklärt. Qualität wird häufig nur noch simuliert, es ist viel Täuschung im Spiel. Wir legen in der Lieferkette die echten Fehler und echten Ursachen nicht offen. Wie leben und erhalten wir Qualitätsehrlichkeit?
Wir haben gleichzeitig Regulierungslücken und Überformalisierung. Die technologische und gesellschaftliche Entwicklung schreitet so schnell voran, dass Regelwerke, Normen und Gesetze nicht mehr mithalten. Es gibt eine wachsende Regulierungslatenz. Gleichzeitig steigt die Zahl der Regeln, auch der ungeeigneten und einander widersprüchlichen Regeln. Märkte aber auch Organisationen sind zunehmend überformalisiert. Wie gestalten wir Managementsysteme die den formalen Anforderungen gerecht werden UND funktionieren?

Benedikt Sommerhoff analysiert für die DGQ Trends und richtet die Facharbeit des Vereins darauf aus. Als Leiter Innovation & Transformation arbeitet er mit Kolleginnen, Kollegen und Mitgliedern der DGQ an den Zukunftsthemen, die Wirtschaft und Gesellschaft und besonders das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung beeinflussen und prägen werden. Im QLAB der DGQ, ihrem Design Thinking Labor, entstehen unter der Moderation des Teams Innovation neue Lösungen für die DGQ und für Organisationen. Sommerhoff hat an der RWTH Aachen Maschinenbau studiert, an der Bergischen Universität Wuppertal promoviert und ist seit 18 Jahren in unterschiedlichen Fach- und Führungspositionen für die Deutsche Gesellschaft für Qualität tätig.